God is one. Life is one. Trying to live a meaningful one.
Rammstein
Rammstein

Rammstein

Vor knapp zehn Jahren predigte ich in einer norddeutschen Gemeinde. Im Gottesdienst lud die Jugend samt Pastor Pethrus* zu einem groß angelegten Missionseinsatz auf dem sich anbahnenden Open-Air-Rockfestival “Wacken” ein. Man wollte möglichst viele zum Mitmachen gewinnen und wählte wohl deshalb die Worte: “Lasst uns das Evangelium dorthin tragen, wo es am allernötigsten ist.” Mich beeindruckte der Missionseifer der Gemeinde, doch verstand ich auch meine eigenen drei verdutzten Teenager, die mich leicht empört fragten, warum die hier ernsthaft meinten, das Evangelium sei ausgerechnet auf einem Rockfestival “am nötigsten”. Gute Frage! Waren es die Tätowierungen? Oder ist aktives Spielen und Hören von Hardrock, Metal & Co vielleicht der ultimative Beweis für das ganz besonders sündige Leben, während die brave Schlagermittelschicht kaum noch weiß, warum auch sie sich bekehren sollte? Und überhaupt: Evangelium, Bekehrung – was genau ist das eigentlich?!

Nun muss ich zugeben, dass meine eigenen Playlists, früher noch Kassetten gennant, potentiell wackengeeignete Musik lange ausgeschlossen hatten. Weniger aus weltanschaulichen oder gar theologischen Gründen. Ursprünglich war es reine Geschmacksache. Diese Musik lag in Dissonanz zu meinem persönlichen Lebensgefühl, das während meiner jungen Jahre eher von der Suche nach cooler Maskulinität, später für zwei Jahrzehnte von wohliger Freikirchlichkeit bestimmt wurde. Da erst kam die Theologie ins Spiel, denn zu Letzterem gehört auch eine gewisse Angst vor dem Teufel. Und der versteckt sich nach Meinung einiger christlicher Bücher und Vorträge aus den 1980-er Jahren, die ich nach meiner Bekehrung aufmerksam studierte, offenbar gern in der Musik. Geht man ein, zwei Jahrzehnte weiter zurück, so wurden nicht nur einzelne Lieder oder Musikstile, sondern gleich die Instrumente verteufelt (Schlagzeug!), ganz egal, was man darauf spielte. (Übrigens ungeachtet bemerkenswerter Bibeltexte, die genau solche Instrumente für das Gotteslob empfehlen…) Blickt man noch tiefer in die Kirchengeschichte, so haben Kirchenväter und Päpste sogar ausgerechnet die Orgel “wegen ihres sinnlich aufreizenden Klangs” lange in der Kirche abgelehnt. Doch nicht nur die Musik, auch das Schauspiel war verpönt, weil es ebenfalls als verführerisch angesehen wurde und damit – natürlich! – okkult sein musste. Ganz besonders die freikirchliche Tradition mit ihren Wurzeln in der aufgeklärten und sachlichen Moderne, einer Zeit ohne Platz für Mystik, hat sich im Gegensatz zu reich verzierten Kirchen lange eine gewisse Skepsis der Kunst gegenüber bewahrt. Mein eigenes Leben war im Übrigen zum Jahrtausendwechsel im Groben und Ganzen sicher, sauber und geordnet. Es gab also lange keinen Grund, schweres Metall oder harte Felsen klingen zu lassen. Hänssler-Lobpreis und ein bisschen Reinhard Mey reichten in der Regel völlig aus.

Doch dann ging’s in den Großstadtdschungel.

In dieser schönen, neuen Welt war’s schnell vorbei mit der Dorfidylle. Plötzlich kannte ich mich nicht mehr aus. War verloren und verwirrt. Am schlimmsten: Ich war ständig unterlegen, ewig in der Unterzahl, egal, in welchen Kreisen ich mich auch bewegte. Der einzige Deutsche im Raum, der seine deutschen Eigenarten auch noch für total selbstverständlich hielt. Der einzige Weiße im Bus. Der einzige Christ unter Muslimen. Der einzige Nicht-Muttersprachler auf der Party. Der einzige, der noch nie einen Krieg oder Flucht erlebt hatte. Der einzige ohne psychische Probleme. Der einzige mit einer funktionierenden Familie. (Fast) der einzige Europäer in einer amerikanischen Organisation. Der einzige Christ in der neuen Ortsgemeinde, der ernsthaft glaubte, Gemeinde könne auch ganz anders aussehen – ohne wirklich zu wissen, wie denn nun genau. Aber ich war auch der einzige, der mutig (oder dumm) genug war, genau das auszuprobieren und herauszufinden.

In jener Zeit hörte ich wenig Musik. Zu herausfordernd und zu verworren war mein neuer Alltag. Und wenn doch, dann waren es eher Lieder, die man hier im Lande kennen muss, wie die Nationalhymne oder Ulf Lundells Öppna landskap, und natürlich hiesigen Lobpreis, lovsång. Später aber entdeckte ich ein Genre für mich, das mir vorher auch nie gefallen hatte: Jazz. Improvisieren. Immer etwas chaotisch. Das war nämlich mein neues Lebensgefühl. Meine melodische, vorhersagbare Vergangenheit ging in eine unsichere Zukunft über, in der man nie wusste, wie genau der nächste Takt wohl klingen mag.

Vielleicht hätte ich mehr von meiner frommen Harmonie in diese chaotische, manchmal dissonante Welt exportieren sollen? War ich nicht genau dazu gekommen, die Postmoderne etwas gemütlicher und sicherer, weil christlicher zu machen? Nun, ich habe mein Bestes gegeben, wirklich, tagein, jahraus. Die Postmoderne ist aber bis heute keinen Tick gemütlicher geworden. Im Gegenteil. Außerdem geschah schon wieder etwas Unerwartetes: Das chaotische Beben einer verrückten Welt gab meiner redlichen Freikirchlichkeit feine Risse. So erinnerte ich mich plötzlich an längst vergangene Unterhaltungen wie die mit Stefanie*, einer frisch bekehrten, jungen Frau, die mir nach ein paar Monaten aktiver Teilnahme an unserem damaligen, deutschen und freien Gemeindeleben anvertraute, dass sie ab sofort nicht mehr in die Gemeinde kommen würde. Sie käme nämlich nicht damit klar, dass hier alle so perfekt seien, das entspräche einfach nicht ihrer Wirklichkeit. Alle seien zwar supernett hier, und doch sie passe nicht rein und erlebe keine Zugehörigkeit. Sie hat ihre Ankündigung wahr gemacht. Und ich empörte mich wochenlang darüber, was das denn zu bedeuten habe, wir seien alle “zu perfekt”! Das stimmt doch gar nicht…!!! Wie blind ich war.

Freikirche ist nämlich in allererster Linie eine Kultur, als solche wird sie wahrgenommen und erlebt. Eine Kultur, die zwar fest glaubt, frei von Traditionen zu sein, in Wahrheit aber ihre eigenen, festen Gepflogenheiten mit dem Wort “biblisch” verwechselt. Entweder fühlt man sich hier wohl und gehört dazu, oder man tut es eben nicht, wie Stefanie. Erst kürzlich war hier in meiner neuen Heimat eine Studie im Gespräch, die aufzeigte, wie die hiesige Freikirchenbewegung in der armen, hungernden und alkoholverseuchten Arbeiter- und Bauernklasse ihren Anfang nahm, sich bis heute aber in eine Mittel- bis Oberschicht entwickelte. Die meisten freien Gemeinden bestehen hier jetzt aus gut situierten Leuten, Akademikern, Unternehmern und so weiter. Ich kenne z.B. Levi*, einen Evangelisten, der fährt mit Benz und Harley rum und fühlt sich mächtig gesegnet – allein, niemand hört ihm mehr zu. Auf der anderen Seite kenne ich auch Nisse*. Nisse ist Schweißer, seit seiner Bekehrung sehr gläubig und hat sich nach jahrelangem Ringen entschieden, seine Gemeinde zu verlassen. Zu abgehoben, findet er, sie habe nix mehr mit Jesus zu tun. Nisse erinnert mich ein bisschen an Stefanie. Die hätte auch was ganz anderes gebraucht. Was aber genau wäre wirklich eine gute Gemeindekultur für sie gewesen?

In meinem Experiment, neue Gemeindekulturen zu entwickeln, traf ich unzählig viele Menschen. Die meisten waren wenig bis gar nicht fromm, denn ich musste ja lernen, warum sie nicht fromm sein wollten, aber alle waren sehr, sehr verschieden. An manchen Tagen mit einflussreichen Unternehmern oder Lokalpolitikern zu diskutieren und ein paar Stunden später mit machtlosen Randgruppen abzuhängen war eine brutale Erweiterung meines bis dahin doch eher winzigen Weltbilds. Der enorme dynamische Umfang der Welt mit seinen ungeheuerlichen Ungerechtigkeiten belastet mich. Ich kann und will aber das Gelernte nicht vergessen, das Gesehene ungesehen machen. Ich will diese Erfahrungen nicht wieder ablegen. Sie sind nun Teil meiner Geschichte, meiner Identität und damit meines neuen Lebensgefühls. Manchmal frage ich mich allerdings, wie Gott das eigentlich so lange aushalten kann. Ist mir unbegreiflich.

Wenn es also einen Zusammenhang zwischen Lebensgefühl und musikalischen Vorlieben gibt, dann ist es fast schon folgerichtig, dass meine musikalische Reise mich zu Rammstein führen würde. Selbst hätte ich das am wenigsten erwartet, zu blind war ich für meine vielen blinden Flecken. Zum Beispiel hatte ich mich immer für einen sachlichen Logiker gehalten, wie hätte ich ahnen können, dass ausgerechnet Poesie wie Rilke, Goethe und andere literarische Werke sowohl meinen vermeintlich rationalen Geist als auch meine vermeintlich männerharte Seele inspirieren würden?

Vor allem aber war ich völlig blind für die Höhle der Frustration, die zwischen den Worten Innovation und Kirche versteckt liegt. Kirche will so gerne konservativ sein und bleiben, dass mittlerweile alle Welt glaubt, Kirche müsse einfach konservativ sein, sonst sei es keine Kirche mehr. Wenn das Jesus wüsste!

Oder weiß er es?!

Armer Jesus…

Gerade unsere Zeit erfordert neue Ideen, Visionen. Und vor allem Mut. Dazu braucht es Hoffnung! Und Zukunftsglauben! Je konkreter, desto besser. Doch jener Zukunftsglaube ist uns flöten gegangen. “Diese, unsere Zeit kennzeichnet nunmal, dass Krisen nicht überwunden, sondern von größeren Krisen geschluckt werden” resonierte die Süddeutsche Zeitung im April 22, nach Erscheinen des neuesten Rammstein-Albums “Zeit”. Und weiter: “Wer sich diesem Heer anschließt [Anm.: Der “Armee der Tristen”, dem Öffnungslied jenes Albums über eine ganze Armee resignierter Menschen] kann keinen Trost erwarten. Fragt besser nicht, wohin die Mission euch führt.” (Ulrike Nimz, “Kleine Flamme”, SZ vom 28. April 2022). Die ostdeutsche Band Rammstein ist so schwarz, poetisch und faszinierend wie das Buch Prediger in der Bibel. Wie der schwarze Hintergrund, auf dem Rembrandt seine Motive kontrastvoll erleuchten ließ. Wirklich lebendige Hoffnung erfordert nämlich einen sehr realen Pessimismus, wie der schwedische Theologe Peter Halldorf in seinem Jeremiakommentar schlussfolgert.

Hier liegt ein Problem: Uns Freikirchlern ist sowohl der genau jener realer Pessimismus als auch die Angst abhanden gekommen. Wir verwechselten teure Hoffnung mit billigem Optimismus. Wenn wir aber verlernt haben, Gott auch mit blutig gepeitschten Rücken zu Mitternacht im Kerker loben zu können, wie wollen wir dann in schwarzen Zeiten leuchtende Kontraste sein?

Auf meiner persönlichen Reise ist es mir gelungen, ein paar Dinge herauszufinden, wie Gemeinde heute und in Zukunft anders sein könnte oder sollte. Über die Mosaiksteinchen meiner Entdeckungen habe ich einen mittlerweile 17 Jahre langen Blog geschrieben. Entscheidend aber ist das große Bild, das sich daraus ergibt: Die Welt steuert gerade mit Vollgas (punch intended) auf eine globale Katastrophe zu, die es noch zu vermeiden oder zumindest zu verzögern ginge. Nichts, gar nichts könnte uns Christen eine besseres Bühnenbild geben, um der Welt gelebte Hoffnung vor dem Hintergrund einer drohenden Hölle anschaulich zu machen. Um live und in 3D plastisch vorzumachen, was Umkehr bedeutet, wie ein simpler Lebensstil mit großen Erwartungen aussieht. Wir könnten eine hoffnungsvolle Variante der Zukunft leben gemäß der Vision der Bibel. Doch erklär das mal einem konservativen Publikum. Bring mal verwöhnten Schoßkindern Fasten und Verzicht bei. Plötzlich, so dünkt es mir, scheint gerade den Christen die Rettung des eigenen Status Quo sehr viel wichtiger zu sein als die Rettung der Welt. Plötzlich werden selbst von langjährigen und gereiften (sollte man meinen) Leitern in Gemeinden Verse hervorgekramt, dass die Welt doch eh vergehen muss – als sei es die gehorsame Pflicht eines Christenmenschen, mit Faustschlägen noch ein wenig nachhelfen zu müssen. Spätestens hier wurden bei mir aus den feinen Rissen im Freikirchenbild Sprünge. Der Putz blättert. Aus so manchem Evangelikalen wird im globalen Westen gerade ein Exvangelikaler, ein neuer Sammelbegriff für Christen, die sich der individualistischen Boomer-Attitüden mancher Freikirchen schämen.

Für mich persönlich ist es eine Pein (und damit peinlich), herausgefunden zu haben, wie Gemeinde trotz ihrer enormen Schrumpfung wieder ein Vorreiter werden könnte, ein leuchtendes, motivierendes Beispiel, das animiert und ganze Gesellschaften würzt, um dann aber ansehen zu müssen, wie viele Gemeinden lieber sterben, als sich zu ändern. Dass man sich viel zu sehr um sich selbst dreht, um die großen Zusammenhänge sehen zu können. Dass die Öllampe erloschen sein wird, wenn der Bräutigam dann endlich kommt. Ich darf und werde es niemanden vorwerfen, weil ich selbst ganz genauso war, und dennoch erzeugt es in mir neben Schmerz auch Wut.

Wenn Rammstein also “– und dann reiß ich der Puppe den Kopf ab! – und dann beiß ich der Puppe den Hals ab! – es geht mir nicht gut! – nein!” ins Mikro brüllt, wie das Lied “Puppe” eben geht, das von einem Jungen handelt, der am brutalen Wahnsinn der Welt langsam aber sicher selbst irre wird, wenn die Bühnenarchitektur an Sauron oder die destruktiven Dummheiten des Dritten Reichs erinnert, wenn die Flammenwerfer einen Vorgeschmack auf die Versengung der Erde geben und das Ganze noch mit einer ordentlichen Portion Humor gewürzt ist, dann fühlt sich meine Seele in der jetzigen Phase meines Lebens gerade mehr verstanden als in der perfekten Bühnenshow einer Megachurch mit frommem Softpop und glattgeleckten Predigern in teurem Outfit. Denn Letzteres dient eigentlich nur dem Ego, Ersteres erinnert mich hingegen an die große Notwendigkeit einer enormen, globalen Hoffnung. Kein Kuscheljesus kann das liefern. Das kann nur ein wahrer Herrscher aller Herrscher.

Als am Ende des Göteborger Rammsteinkonzerts 70000 Zuhörer das Stadion verließen und leise, fast andächtig über die von der Polizei gesperrten Kreuzungen schritten, hörte ich eine Stimme aus einem Lautsprecher. Erst konnte ich nichts verstehen, doch die Stimmlage und der lange Monolog machten mir klar: Da evangelisiert jemand. Und wirklich, ein junger Mann dort auf der Verkehrsinsel als Straßenprediger: “…umkehren! Du musst dir solche Musik nicht anhören! Wende um! Wende dich zu Jesus, damit du nicht in der Hölle brennen wirst! Denn wenn du nicht…” Es hätte Levi sein können. Oder Pastor Pethrus, der predigt, wo es am nötigsten ist.. Und alle 70000 Stefanies und Stefanos zogen schweigend an ihm vorbei. Kaum jemand schenkte ihm Beachtung.

Gott segne sein Herz. Ich bewundere seinen Mut und Einsatz. Bleibt aber zu hoffen, dass der junge Verkündiger vielleicht bald z.B. nach Berlin berufen wird. Um dort eine ähnliche Erweiterung seines Weltbilds zu erfahren.


* – Name geändert