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“In der Welt habt ihr Angst”, so übersetzte Luther Johannes 16,33. Obwohl in diesem Vers eigentlich von Widerwärtigkeiten, Problemen und Sorgen (griechisch thlipsis) und nicht wirklich von Angst (griechisch phobos) die Rede ist, so trifft die Aussage dennoch gut zu. Der Mensch ist ein geplagtes Wesen, und eine natürliche Reaktion darauf ist eben Angst. Persönlich erlebe ich dieser Tage ein großes Anwachsen meiner eigenen Angst – wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob nun die Ängste zunehmen oder nur mein Bewusstsein darüber.

Da wäre die Angst vor der Klimakatastrophe oder vor der Gefahr weiterer Seuchen. Die Angst vor mächtigen Dummköpfen à la B. Johnson, Trump oder Putin. Die Angst vor der Dummheit des Menschen generell. Die Angst um die Zukunft meiner Kinder und Enkel, auch wenn letztere noch nicht einmal gezeugt sind. Und selbst, wenn sie nie gezeugt werden sollten, so kenne ich genug liebe Menschen mit mehr oder weniger kleinen Kindern; nicht zuletzt hält meine liebe Frau schon beruflich täglich Babies in den Händen.

Doch ich fürchte, eine meiner größten Ängste ist die Angst des Westens vor der Angst selber.

Ein Beispiel:

Während der Pandemie war Schweden eins der wenigen Länder der Erde (wenn nicht das einzige), in dem keine Maskenpflicht galt. Da ich aber zu lange und zu oft in OP-Sälen oder auf Intensivstationen gearbeitet hatte, war mir das Tragen einer OP-Maske weder etwas Fremdes noch Merkwürdiges. In einer potentiell kontaminierten Umgebung trage ich also immer und wie selbstverständlich eine Maske. In einem vollgestopften, schwedischen Bus mit coronabeschlagenen Fenstern war ich da aber oft der einzige. Einmal sprach mich eine Frau darauf an. Sie kannte mich und ich kannte sie, sonst hätte sie wohl nichts gesagt. (Schweden belehren einander längst nicht so gerne wie Deutsche.) Ich wusste, dass sie obendrein eine fromme Christin ist. Es war bestimmt gut gemeint, und sie hält sich gewiss für eine reife Schwester im Herrn, die mir eine ermutigende Ermahnung mit auf den Weg geben wollte. Doch ihr Kommentar mit Blick auf meine Maske demaskierte dennoch die unterschwellige Haltung des reichen Westens: “Wir dürfen uns nicht von unserer Ängsten bestimmen lassen.” Was ich ihrer Meinung nach ja eindeutig tat, mich von meinen Ängsten bestimmen lassen – die Maske im Gesicht war Beweis genug.

Mit anderen Worten: Wir dürfen keine Angst haben. Und wenn doch, dürfen wir es nicht öffentlich zeigen. Als Christ schon dreimal nicht, zu oft steht schließlich in der Bibel “fürchtet euch nicht”. Angst als Zeichen von Schwäche, Kontrollverlust, Unreife, Unglaube. Starke Menschen und reife Christen kennen ebensowenig Angst wie Indianer Schmerz. Sind immer gut drauf. Christen freuen sich obendrein ohne Unterlass im Herrn.

Wir haben uns die Angst abgewöhnt.

Liegt das an der geistlichen Reife unserer Generation? Oder an der Evolution zu einem aufgeklärteren Homo Sapiens, der über Widerwärtigkeiten nur noch müde lächelt, weil ihm thlipsis dank Zentralheizung und Supermarkt fremd geworden ist? Der Behemot (vgl. Hiob 40) ist schließlich längst ausgestorben, im Gegensatz zu Hiob können wir heute sicher durch die Natur spazieren, ohne einem Leviatan (ebd.) zu begegnen, der weder Gnade noch süße Worte kannte (V27). Heute stirbt keiner mehr an Durchfall, wenige Frauen im Wochenbett, noch weniger müssen rund sechs ihrer acht Kinder noch vor der Pubertät zu Grabe tragen, wie es rein statistisch über Jahrtausende der Normalfall auf dem Globus war. In Watte gepackt wurden wir seit der Boomergeneration fast aller Gefahr entwöhnt. Mit unseren verkümmerten, wenn nicht sogar verstümmelten Instinkten erkennen wir heute mit bloßem Auge kein Unwetter mehr am Horizont, das uns lebensgefährlich werden könnte, weil wir zur Unwettererkennung erstens Apps brauchen und zweitens gar nicht mehr an Lebensgefahr im Alltag glauben. Wir glauben nur an uns selbst. Und somit wird die Angst vor der Angst zum Motor der Dekadenz. Lächerliche Diskussionen und Demonstrationen der Besserwisserei in Nebensächlichkeiten sind typische Phänomene der Ersten Welt unserer Tage. In der Zweiten und Dritten Welt hat man nämlich immer noch ganz andere Probleme, von denen wir nichts wissen.

Ich sagte der Dame im Bus, dass ich Angst durchaus als etwas Positives betrachte. Jedenfalls, solange sie nicht lähmt, sondern wachsam macht. Angst erhöht das Adrenalin im Blut, wir werden agiler, handlungsfähiger. Das ist nicht nur gut, sondern wichtig. Flight or fight, Flucht oder Kampf, das war einmal die wichtigste Entscheidung, die es in der Savanne oder Taiga oft sehr schnell zu treffen galt. Heute aber begegnen wir kaum noch Löwen oder Säbelzahntigern, heute drohen ganz andere Gefahren. Elon Musk hat sich da für Flucht entschieden, er will zum Mars. Ich entscheide mich für den Kampf, denn ich bleibe hier. Nur, wer seine Ängste genau kennt, kann mutig sein. Wer angeblich keine Angst kennt oder Angstlosigkeit mit Stärke verwechselt, ist nicht unbedingt mutig, sondern eher leichtsinnig. Und damit wird Phobophobie zu einer gefährlichen und unnötigen, weil vermeidbaren tödlichen Psychose westlicher Gesellschaften. Dagegen hilft leider kein simples Maskentragen. Ich habe also allen Grund, Angst zu haben.

Und dennoch zu glauben, dass Christus diese Welt überwunden hat.

Author

marcusis@icloud.com

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